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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 18.08.2009
Aktenzeichen: 2 M 114/09
Rechtsgebiete: AO, IHKG


Vorschriften:

AO § 361 Abs. 3 S. 1
IHKG § 2 Abs. 1
IHKG § 3 Abs. 8
1. Das Verhältnis zwischen der Veranlagung im Gewerbesteuermessbescheid des Finanzamts und dem von der Industrie- und Handelskammer erlassenen Beitragsbescheid entspricht dem Verhältnis zwischen einem Grundlagenbescheid Im Sinne von §§ 171 Abs. 10, 175 Abs. 1 Nr. 1, 184 Abs. 1 Satz 2, AO und einem Folgebescheid im Sinne von §§ 175 Abs. 1, 182 Abs. 1 Satz 1 AO.

2. Hat das Finanzamt die Vollziehung des Grundsteuermessbescheids in vollem Umfang ausgesetzt, hat die Industrie- und Handelskammer in entsprechender Anwendung des § 361 Abs. 3 Satz 1 AO auch die Vollziehung des Beitragbescheids auszusetzen.

3. Setzt eine Behörde entgegen § 361 Abs. 3 Satz 1 AO die Vollziehung eines Folgebescheids (ggfs. gegen Sicherheitsleistung gemäß § 361 Abs. 3 Satz 3 AO) nicht aus, obwohl das zuständige Finanzamt die Vollziehung des zugehörigen Grundlagenbescheids ausgesetzt hat, so ist vorläufiger Rechtsschutz nicht nach dem grundsätzlich sonst anwendbaren § 80 Abs. 5 VwGO, sondern ausnahmsweise nach § 123 Abs. 1 VwGO gegeben.

4. Ein als Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO formuliertes Rechtsschutzbegehren im Eilverfahren ist in diesem Fall - auch bei anwaltlicher Vertretung - sachdienlich dahin gehend auszulegen, dass ein dem Rechtsschutzziel entsprechenden Antrag nach § 123 VwGO gestellt sein soll. Eine solche Auslegung ist auch im Beschwerdeverfahren noch möglich.


Gründe:

I.

Die Antragstellerin ist Eigentümerin mehrerer vermieteter Immobilien. Unter Datum vom 31.07.2007 erließ das Finanzamt G. ihr gegenüber Gewerbesteuermessbescheide für die Jahre 2002 bis 2005, gegen die die Antragstellerin am 06.08.2007 Einspruch einlegte, über den - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden ist. Auf ihren Antrag setzte das Finanzamt mit Bescheid vom 28.01.2008 die Vollziehung dieser Bescheide aus. Mit Bescheid vom 27.03.2009 zog die Antragsgegnerin die Antragstellerin für die genannten Jahre zu Kammerbeiträgen in Höhe von insgesamt 5.849,99 € heran.

Am 20.04.2009 hat die Antragstellerin hiergegen Klage erhoben mit dem Antrag, den Beitragsbescheid aufzuheben. Den am selben Tag bei der Antragsgegnerin gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Beitragsbescheids hat diese mit Bescheid vom 24.04.2009 abgelehnt und zur Begründung angegeben, eine Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO komme nicht in Betracht, weil keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Beitragsbescheids bestünden und dessen Vollziehung für die Antragstellerin auch keine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

Daraufhin hat die Antragstellerin am 12.05.2009 beim Verwaltungsgericht um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht und beantragt, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Beitragsbescheid anzuordnen. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 23.06.2009 hat das Verwaltungsgericht den Antrag abgelehnt und zur Begründung ausgeführt: Die Antragstellerin dürfe zu Kammerbeiträgen herangezogen werden. Sie sei gemäß § 2 Abs. 1 IHKG Kammerzugehörige, weil sie ein Gewerbe (Vermietung und Sanierung von erworbenen Mehrfamilienhäusern) betrieben habe und vom Finanzamt G. durch die Bescheide vom 31.07.2007 zur Gewerbesteuer veranlagt worden sei. An diese Feststellungen der Finanzverwaltung sei die Antragsgegnerin gebunden, auch wenn die Bescheide des Finanzamts noch nicht bestandskräftig seien. Das Finanzamt habe zwar die Vollziehung der Bescheide ausgesetzt, sie bislang aber nicht aufgehoben.

Mit der am 07.07.2009 erhobenen Beschwerde verfolgt die Antragstellerin ihr Begehren weiter und wiederholt den im erstinstanzlichen Verfahren gestellten Antrag. Sie macht u. a. geltend, dass die Antragsgegnerin auf Grund der Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuermessbescheide verpflichtet sei, auch die Vollziehung des Beitragsbescheids als Folgebescheid auszusetzen.

II. Die zulässige Beschwerde ist begründet.

1. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist allerdings gemäß § 88 VwGO dahin auszulegen, dass die Antragstellerin beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Vollziehung des Beitragbescheids vom 27.03.2009 auszusetzen.

Das Verhältnis zwischen der Veranlagung im Gewerbesteuerteuermessbescheid des Finanzamts und dem von der Antragsgegnerin erlassenen Beitragsbescheid entspricht dem Verhältnis zwischen einem Grundlagenbescheid im Sinne von §§ 171 Abs. 10, 175 Abs. 1 Nr. 1, 184 Abs. 1 Satz 2 AO und einem Folgebescheid im Sinne von §§ 175 Abs. 1, 182 Abs. 1 Satz 1 AO (vgl. VGH BW, Beschl. v. 11.03.2008 - 6 S 2368/06 -, GewArch 2008, 211; OVG NW, Beschl. v. 08.08.2001 - 4 A 4074/00 -, GewArch 2002, 33). Auf Grund der Akzessorietät zwischen Grundlagen- und Folgebescheid sind im Anfechtungsverfahren gegen den Folgebescheid Einwendungen gegen die Festsetzungen im Grundlagenbescheid unbeachtlich (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.12.1997 - 8 B 161.97 -, KStZ 1999, 34; OVG NW, Beschl. v. 08.08.2001, a. a. O.). Der Antragsgegnerin ist es deshalb auch verwehrt zu prüfen, ob die Antragstellerin vom Finanzamt zu Recht zur Gewerbesteuer veranlagt wurde.

Nach § 361 Abs. 3 AO Satz 1 ist aber im Fall der Aussetzung der Vollziehung eines Grundlagenbescheids auch die Vollziehung eines Folgebescheids auszusetzen. Gemäß § 361 Abs. 3 Satz 2 AO bleibt (lediglich) der Erlass eines Folgebescheids zulässig. Zwar erklärt hinsichtlich der Beiträge § 3 Abs. 8 IHKG von den Vorschriften der Abgabenordnung nur diejenigen über die Verjährung der Steuern vom Einkommen und Vermögen und damit nicht § 361 Abs. 3 Satz 1 AO für entsprechend anwendbar. Da aber das Verhältnis von Grundsteuermessbescheid und IHK-Beitragsbescheid dem Verhältnis von Grundlagenbescheid und Folgebescheid entspricht, so dass entsprechend dem - ebenfalls nicht von der Verweisungsnorm des § 3 Abs. 8 IHKG erfassten - § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO der Beitragsbescheid bei Aufhebung des Grundsteuermessbescheids aufzuheben ist (vgl. VGH BW, Beschl. v. 11.03.2008, a. a. O., OVG NW, Beschl. v. 08.08.2001, jew. m. w. Nachw.), besteht (auch) hinsichtlich der Vollziehbarkeit des Beitragsbescheids bei Aussetzung des Grundsteuermessbescheids eine Regelungslücke, die mit einer entsprechenden Anwendung des § 361 Abs. 3 Satz 1 AO zu schließen ist.

Setzt eine Behörde entgegen § 361 Abs. 3 Satz 1 AO die Vollziehung eines Folgebescheids (ggfs. gegen Sicherheitsleistung gemäß § 361 Abs. 3 Satz 3 AO) nicht aus, obwohl das zuständige Finanzamt die Vollziehung des zugehörigen Grundlagenbescheids ausgesetzt hat, so ist vorläufiger Rechtsschutz nicht nach dem grundsätzlich sonst anwendbaren § 80 Abs. 5 VwGO, sondern ausnahmsweise nach § 123 Abs. 1 VwGO gegeben (BVerwG, Beschl. v. 27.11.1981 - 8 B 184.81 -, NVwZ 1982, 193; ThürOVG, Beschl. v. 17.03.2003 - 4 EO 269/02 -, NVwZ-RR 2004, 206; VGH BW, Beschl. v. 24.02.1992 - 2 S 42/92 -, Juris). Insoweit geht es um ein vorläufiges Rechtsschutzbegehren, das in der Hauptsache nur mit einer Verpflichtungsklage verfolgt werden könnte, nämlich mit dem Antrag auf Verurteilung zum Erlass eines Bescheids, durch welchen der Folgebescheid aufgehoben oder geändert wird (BVerwG, Beschl. v. 27.11.1981, a. a. O.).

Einen solchen Antrag nach § 123 VwGO hat die Antragstellerin zwar weder im erstinstanzlichen Verfahren noch im Beschwerdeverfahren ausdrücklich gestellt. Gemäß § 88 VwGO i. V. m. § 122 VwGO ist aber das Gericht an die Fassung des Antrags nicht gebunden, sondern hat das wirkliche Rechtsschutzziel aus dem gesamten Vorbringen zu ermitteln (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.05.1990 - 2 C 30.78 -, BVerwGE 60, 144 [149]; Beschl. v. 25.06.2009 - 9 B 20.09 -, Juris, m. w. Nachw.). Dies ist auch bei anwaltlicher Vertretung des Antragstellers zulässig (vgl. Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., RdNr. 297, m. w. Nachw.). Das Gericht darf allerdings den Wesensgehalt der Auslegung nicht überschreiten und an die Stelle dessen, was eine Partei erklärtermaßen will, das setzen, was sie - nach Meinung des Gerichts - zur Verwirklichung ihres Bestrebens wollen sollte (BVerwG, Beschl. v. 14.04.2003 - 3 B 141.02 -, Juris, m. w. Nachw.). Nach der Antragsbegründung im erstinstanzlichen Schriftsatz und der Beschwerdebegründung der Antragstellerin ist das Rechtsschutzziel der Antragstellerin erkennbar darauf gerichtet, dass der Beitragbescheids der Antragsgegnerin nicht vollzogen werden soll, solange die Grundsteuermessbescheide vom 31.07.2007 nicht bestandskräftig sind bzw. die Aussetzung der Vollziehung durch die Finanzbehörde nicht aufgehoben wird. Dieses Rechtsschutzziel kann die Antragstellerin mit der von ihr gegebenen Begründung, die Gewerbesteuerveranlagung in den Messbescheiden sei fehlerhaft, weil sie keine Einkünfte aus einer gewerblichen Tätigkeit erzielt habe, aus den bereits dargelegten Gründen nur mit einem Antrag nach § 123 VwGO erreichen. Vor diesem Hintergrund ist das als Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO formulierte Rechtsschutzbegehren im Eilverfahren sachdienlich dahin gehend auszulegen, dass ein dem Rechtsschutzziel entsprechenden Antrag nach § 123 VwGO gestellt sein soll (vgl. ThürOVG, Beschl. v. 17.03.2003, a. a. O.; VGH BW, Beschl. v. 24.02.1992, a. a. O.).

Eine solche Auslegung ist auch im Beschwerdeverfahren noch möglich. Auch im Rechtsmittelverfahren ist das Gericht verpflichtet, das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers ohne Bindung an den Wortlaut seines (erstinstanzlichen) Antrags zu ermitteln und seiner Entscheidung zugrunde zu legen (vgl. Ortloff/Riese in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 88 RdNr. 17, m. w. Nachw.).

2. Der hiernach statthafte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet. Die Antragstellerin hat den von ihr geltend gemachten Anordnungsanspruch aus § 361 Abs. 3 Satz 1 AO, weil das Finanzamt G. die Vollziehung der Grundsteuermessbescheide - soweit ersichtlich in vollem Umfang - ausgesetzt hat. Bei Aussetzung der Vollziehung des Grundlagenbescheids besteht eine strikte Pflicht zur Aussetzung der Vollziehung des Folgebescheids, und zwar unabhängig davon, ob der Folgebescheid angefochten wurde oder bereits bestandskräftig ist; nur hinsichtlich einer ggfs. anzufordernden Sicherheitsleistung besteht ein Ermessensspielraum der Behörde (Pahlke, AO, 2. Aufl., § 361 RdNr. 137, m. w. Nachw.).

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 2, 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG.

Ende der Entscheidung

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